IN MÜNCHEN HATTE ICH NOCH NIE SEX – JONATHAN FRANZEN IM LITERATURHAUS

Jonathan Franzen hat gestern im Literaturhaus in München gelesen – bzw. ausgelagert im ausverkauften Herkulessaal der Residenz, der um die 1300 Besucher fasst, leider nicht 2000 Plätze, die man gut hätte brauchen können. Nach der kurzen Vorstellung durch das Literaturhaus mit dem Hinweis: Franzen wolle keinen Schauspieler für ihn lesen lassen und er wolle unbedingt selbst lesen und zwar auf Deutsch – die Formulierung ließ durchklingen, dass es den Veranstaltern vielleicht lieber gewesen wäre, hätte er darauf verzichtet – wurde an Prof. Dorothee Kimmich übergeben. Sie kennen sich von der Uni Tübingen, wo Franzen mal die Poetik-Vorlesungen gehalten hat und war wohl dessen Wunsch-Interviewpartnerin. Sie erzählte unterhaltsam, was Franzen an anderer Stelle so alles über dämliche Interviewfragen geäußert hatte und davon, dass er in Amerika als arrogant und großmäulig gelte, hierzulande als „sanfter Denker“. Man konnte gespannt sein.

Franzen hat dann auch selbst gelesen auf Deutsch – er spricht wirklich gut Deutsch und das war irgendwie rührend – doch durch seine eigentümliche Intonation war es gelegentlich etwas schwer zu folgen. Auch das Interview wurde auf Deutsch geführt – und wieder, Jonathan spricht toll Deutsch und es freut einen, dass er so eine Verbindung zu Deutschland hat – aber er ist so eloquent, geistreich und witzig, dass dann schon etwas  verloren geht, wenn er immer wieder über seine Formulierungen nachdenken muss und nicht einfach reden kann. Mit München hat er wohl eine besondere Verbindung – siehe Überschrift dieses kleinen Artikels – denn er kam als Student und „practically a virgin“ auf der Suche nach Abenteuer nach Europa – doch es lief wohl nicht so, wie man sich das als Student so erträumt. Man konnte das Ganze auch als Aufforderung verstehen, etwas an diesem Zustand zu ändern – im Publikum saßen bestimmt einige, die sich hätten breitschlagen lassen. Wenn man grundsätzlich auf „Intellektuelle“ steht, ist Jonathan Franzen nämlich irgendwie süß mit seiner Brille, den wuscheligen Haaren und den, natürlich, schwarzen Klamotten. Fotos bat er uns nicht zu machen – angenehm, denn so hörten die Leute tatsächlich zu, statt wie irre ihre iPhones zu schwenken.

Ein unfreiwilliger Highlight entstand, als Prof. Kimmich, die letztlich nicht ideal harmonierte und sehr lange Fragen stellten, die man nicht so recht als solche bezeichnen konnte, weil sie die Antwort direkt mitgab („Ich könnte das eigentlich nicht besser sagen“ – blieb Jonathan zu antworten) hemmungslos spoilerte. Man sah es kommen, alle rutschten unruhig auf den Stühlen „Sie würde doch jetzt nicht?“, „Sie konnte das doch jetzt nicht sagen?“ – so dass Franzen selbst rief „Spoiler Alert, Spoiler Alert“. Dorothee Kimmich schaute ihn erstaunt an und wischte die Bemerkung dann mit einem „Achso, weil einige es noch nicht gelesen haben“ zur Seite, lachte und fuhr fort „Und am Schluss kommen sie natürlich wieder zusammen/finden sie sich natürlich nicht wieder/kommen sie natürlich nicht zusammen“ –– keine Angst, sie sagte das natürlich nicht, sondern sie sagte nur eins davon –  und verriet, wie das Buch ausgeht. Das Publikum schrie auf, Jonathan Franzen schrie auf (die Amerikaner sind, was Spoiler angeht, sehr sensibel) und man war ein wenig fassungslos. Aber sofort war klar: Prof. Dorothee Kimmich verstand gar nicht, dass außerhalb der akademischen Welt, der „Spoiler“ (ich war mir nicht sicher, ob sie das Wort kannte) vehement geahndet wird. Wie Rezensionsplattformen aufwendig Teile der Besprechung verstecken, wie in Leserunden Teilnehmer angemahnt werden, wenn sie im „falschen“ Diskussionsabschnitt zu viel verraten. Das ist ein Vergehen! Gut, ich glaube, ich werde Purity, was ich gerade erst angefangen habe, trotzdem lesen. Es geht ja dann doch zum Glück nicht nur um das Ende.

Jonathan las noch eine deftige Sexszene auf Englisch – ja, stimmt, er ist ja wirklich Amerikaner und hat diesen krassen, amerikanischen Akzent! – damit man wieder sagen konnte, er spricht gern über Sex. Aber letztlich war er vor allem absolut humorvoll und unterhaltsam und beantwortete charmant noch Fragen aus dem Publikum. Vielleicht ist er ja in Frankfurt! Dann schaue ich mir das nochmal aus der Nähe an. Nein, nein, ich bin glücklich verheiratet. Aber er ist definitiv ein Autor, mit dem man gern ein Glas Wein trinken und reden würde. Meinetwegen auch Ingwer-Tee mit Stevia.

P.S. Um die Anspielung im letzen Satz zu verstehen, muss man Unschuld zumindest zu lesen anfangen …

Julia Stein